Auf den Brücken könnte auch moderne und experimentelle Architektur entstehen.
Auf den Brücken könnte auch moderne und experimentelle Architektur entstehen. Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt

In fünf Meter Höhe wächst eine neue Stadt

Von GÜNTER MURR
Auf den Brücken könnte auch moderne und experimentelle Architektur entstehen. Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt

21. Mai 2023 · Die Idee ist visionär: In Frankfurt sollen große Straßen mit Wohnungen überbaut werden. Eine Stiftung hat das Konzept detailliert ausarbeiten lassen.

Der Baseler Platz in Frankfurt ist heute ein großer Verkehrsknotenpunkt mit viel Asphalt und einer traurigen, kaum genutzten Grünfläche in der Mitte. Auf der Visualisierung, die eine Zukunftsvision für diesen Platz zeigt, ist nichts davon zu sehen. Straßen und Autos sind unter einer großen Brücke verschwunden. Auf dieser, sozusagen im ersten Stock, ist eine parkähnliche Landschaft mit neuen Gebäuden entstanden, die ein wenig an die Architektur früherer Epochen erinnert.

Der Baseler Platz in der Nähe des Hauptbahnhofs würde durch eine Überbauung ein völlig neues Gesicht bekommen.
Der Baseler Platz in der Nähe des Hauptbahnhofs würde durch eine Überbauung ein völlig neues Gesicht bekommen. Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt

Dieses Bild ist Bestandteil des visionären Stadtentwicklungsprojekts „Frankfurter Brücken“, das von der Stiftung Altes Neuland vorangetrieben wird. Gegründet und finanziert wurde diese Stiftung vor drei Jahren von einer Frankfurterin, die ungern in der Öffentlichkeit steht, aber der Stadtentwicklung neue Impulse geben möchte. Als erstes Projekt stellte die Stiftung einen Vorschlag für die Neugestaltung des Platzes an der Hauptwache mit viel Grün und einem Musikpavillon vor.

Doch dann kam die Frage auf, wo in Frankfurt angesichts knapper Flächen noch gebaut werden kann. Die Idee der „Frankfurter Brücken“ wurde geboren. Das Konzept sieht vor, über stark befahrenen Straßen auf einer Länge von insgesamt rund 60 Kilometern eine zweite Ebene einzuziehen, die bebaut und begrün wird. Nicht nur Gebäude mit Wohnungen für 35.000 Menschen und insgesamt 1,15 Millionen Quadratmeter Fläche könnten auf diese Weise entstehen, sondern eine komplett neue städtische Infrastruktur mit autonom fahrenden Bussen, Erdwärmesonden, Photovoltaik, Brauchwasser- und Fernwärmeleitungen. Rund eine Million Quadratmeter begrünter Fläche könnte die Stadt neu gewinnen. Die veröffentlichten Bilder erinnern an die Highline in New York, eine stillgelegte Hochbahntrasse, die zu einem Park wurde.

Vorschlag für eine zweistöckige Brücke über den Main: Unten ist Platz für Fahrräder, oben für motorisierte Fahrzeuge.
Vorschlag für eine zweistöckige Brücke über den Main: Unten ist Platz für Fahrräder, oben für motorisierte Fahrzeuge. Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt

Das Konzept der Frankfurter Brücken ist nicht nur eine vage Idee, sondern sehr weit durchgeplant und auf die Realisierbarkeit hin überprüft. Studenten, Hochschulabsolventen und Professoren waren daran beteiligt, Ingenieurbüros haben detaillierte Berechnungen angestellt. Nicht nur über bauliche Fragen, sondern auch über die Begrünung, Stadtklima, Energie, Verkehr sowie Kunst und Kultur haben sich die Beteiligten Gedanken gemacht. Mehr als 100 überwiegend junge Menschen haben daran mitgearbeitet, Professoren mehrerer Fachrichtungen haben ihre Expertise in einem wissenschaftlichen Beirat eingebracht.

Es geht auch ohne Brücken: Die heute eher triste lange Lange Straße ...
... könnte nach dem Vorbild der begrüntet Brücken auch auf „Ebene null“ umgestaltet werden.
Es geht auch ohne Brücken: Die heute eher triste lange Lange Straße ... Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt
... könnte nach dem Vorbild der begrüntet Brücken auch auf „Ebene null“ umgestaltet werden. Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt

Den Fraktionen im Stadtparlament wurde das Konzept bereits präsentiert, nachzulesen ist es unter www.altes-neuland-frankfurt.com. Erstmals öffentlich vorgestellt wurde es kürzlich beim Stadtentwicklungsfestival SOUP in Frankfurt. „Alle großen Städte stehen vor der Herausforderung, wie sie die Energiewende umsetzen können“, sagte der Landschaftsplaner Yannick Feige, der an dem Projekt mitgearbeitet hat. Die Brücken könnten nicht nur zur Energieerzeugung beitragen, sondern auch so viel Regenwasser auffangen, wie für die Bewässerung des gesamten Innenstadt-Grüns benötigt wird. Zisternen mit einem Fassungsvermögen von 1,6 Millionen Kubikmeter sind vorgesehen.

„Ich finde die Lösung sehr charmant, Wasser über die Brücken zu verteilen“, sagte Peter Cornel, emeritierter Professor für Abwassertechnik an der TU Darmstadt, im Gespräch mit der F.A.Z. „Eine oberirdische Infrastruktur ist viel flexibler als etwas, das sich unter der Erde befindet.“ Dadurch werde die Nachverdichtung der Städte erleichtert. Cornel berät das Projekt als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats.

Diese Vision für die Auffahrt zur Friedensbrücke auf der Sachsenhäuser Seite bezeichnet das Projektteam als „Little Italy“.
Diese Vision für die Auffahrt zur Friedensbrücke auf der Sachsenhäuser Seite bezeichnet das Projektteam als „Little Italy“. Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt
Über Straßenkreuzungen könnten belebte Marktplätze entstehen. Auch historisierende Architektur schließt das Projektteam nicht aus.
Über Straßenkreuzungen könnten belebte Marktplätze entstehen. Auch historisierende Architektur schließt das Projektteam nicht aus. Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt

Und die Architektur? Die Gebäude auf den Brücken sollen möglichst nachhaltig und vielfältig sein, sagte die Architektin Melodi Özcelik beim SOUP-Festival. „Es soll für jeden etwas dabei sein.“ Tatsächlich ist auf der Visualisierung ein bunter Stilmix zu sehen – von Anklängen an den Klassizismus bis zu modernen und experimentellen Formen. „Die Brücken sollen in die Stadt integriert werden“, betonte die Architektin Lara Akbas. Das Konzept sieht vor, dass nicht nur die Bewohner der neuen Gebäude profitieren, sondern auch die Anlieger der Straßen.

Ganz ohne Beeinträchtigung wird es jedoch nicht gehen, denn wer im ersten Stock bisher eine freie Aussicht hat, bekommt möglicherweise ein Bauwerk vors Fenster gesetzt. Das Problem der Verschattung hat das Projektteam im Auge und eine Analyse am Beispiel der Gartenstraße erstellen lassen. Demnach lässt sich die Bebauung so optimieren, dass die zusätzliche Verschattung bei lediglich zwei bis drei Prozent liegt. Wer dennoch erhebliche Nachteile hat, soll einen finanziellen Ausgleich bekommen. Lichtdurchlässe in den Brücken und gläserne Fahrbahnen sollen dafür sorgen, dass es auch unter den Brücken mit einer lichten Höhe von 5,20 Meter nicht duster wird. Für die Brückenbauwerke selbst schlägt das Team – wie bei den Gebäuden – einen Mix aus historisierenden und modernen Stilrichtungen vor.

Die Fahrbahn für die autonom verkehrenden Busse könnte transparent und lichtdurchlässig sein.
Die Fahrbahn für die autonom verkehrenden Busse könnte transparent und lichtdurchlässig sein. Foto: Stiftung Altes Neuland Frankfurt
Öffnungen in den Brücken sollen Tageslicht auf die die darunter liegenden Straßen bringen.
Öffnungen in den Brücken sollen Tageslicht auf die die darunter liegenden Straßen bringen. Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt
Alle Brücken sollen intensiv begrünt werden.
Alle Brücken sollen intensiv begrünt werden. Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt

Die Brücken sollen aber nicht nur Platz für Gebäude und Grünflächen bieten, sondern auch eine neue Infrastruktur schaffen. In die Brückenpfeiler sollen zum Beispiel Erdwärmesonden integriert werden. Außerdem ist die Nutzung von Sonnenergie und Abwärme vorgesehen. Laut den Berechnungen lassen sich entlang der Brücken jährlich 415 Gigawattstunden Strom erzeugen, was der Menge von etwa 40 modernen Windrädern entspricht. Hinzu kommen 440 Gigawattstunden thermischer Energie – etwa ein Fünftel der Produktion der Heizkraftwerke der Mainova. Die Neubauten auf den Brücken verbrauchen nur einen Bruchteil davon, so dass auch benachbarte Quartiere versorgt werden können.

„Wir müssen gezielt die Systeme für Wärme, Wasser und Begrünung miteinander koppeln, um zu zeigen, wie sich die Probleme integriert lösen lassen“, meint Harald Garrecht, Direktor des Instituts für Werkstoffe im Bauwesen an der Universität Stuttgart und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats. Mit den vorgeschlagenen Systemen bestehe die Möglichkeit, die Energie des Sommers für den Winter zu speichern. Der Ingenieur Rolf Katzenbach, bis 2015 Direktor des Energy Centers an der TU Darmstadt, sieht einen weiteren Vorteil: „Die Brücken bieten die Möglichkeit, ein geothermisches Leitungssystem zu installieren, an das große Teile der Stadt angeschlossen werden können. Damit wäre es zum Beispiel auch möglich, die Abwärme von Rechenzentrum großräumig zu verteilen.“

Die autonom fahrenden Busse könnten ganz unterschiedlich aussehen: Entweder modern ...
Die autonom fahrenden Busse könnten ganz unterschiedlich aussehen: Entweder modern ... Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt
... oder historisch ...
... oder historisch ... Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt
... oder phantasievoll.
... oder phantasievoll. Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt

Aber auch zur Lösung von Verkehrsproblemen sollen die Brücken einen Beitrag leisten. Lara Akbas wies beim SOUP-Festival darauf hin, dass auf den Brücken das größte autonom fahrende Transportsystem der Welt entstehen könnte. Mit 400 im Retro-Look oder modern gestalteten Fahrzeugen sollen rund 40 Millionen Passagiere pro Jahr befördert werden, was auch als Entlastung für den bestehenden ÖPNV angesehen wird. Es wäre das einzige motorisierte Verkehrsmittel auf den Brücken. Privaten Autoverkehr soll es dort nicht geben, weshalb auch keine platzraubenden Auffahrtsrampen vorgesehen sind. Für Fußgänger und Radfahrer gibt es Aufzüge.

Allerdings funktionieren die autonom fahrenden Busse nur, wenn die Brücken von Anfang an als Netz geplant sind. Straßen mit einer Länge von zusammen 60 Kilometer hat das Projektteam als geeignet identifiziert. Darunter sind große Einfallstraßen wie die Hanauer und die Darmstädter Landstraße, aber auch der westliche Arm der Autobahn A66. In einem zweiten Schritt könnten weitere Verbindungen geschaffen werden, um Stadtteile zu verbinden oder den Frankfurter Westen anzubinden.

Die grünen Straßen bilden das Kernnetz der Brücken. Gelb eingezeichnet sind optionale Anbindungen weiterer Stadtteile
Die grünen Straßen bilden das Kernnetz der Brücken. Gelb eingezeichnet sind optionale Anbindungen weiterer Stadtteile Bild: Stiftung Altes Neuland Frankfurt

Bleibt am Ende die Frage nach den Kosten des Mega-Projekts. Das Projektteam kommt auf Gesamtkosten von mehr als 30 Milliarden Euro. Finanziert werden soll dieser gewaltige Betrag durch private Investoren, die für 100 Jahre die Brücken unterhalten und die Gewinne daraus ziehen. Danach fallen die Bauwerke an die Stadt.

Aber unabhängig von der Finanzierung ist den Beteiligten klar, dass sie zunächst um Unterstützung für ihre Idee werden müssen. „Wir müssen für solche Projekte Akzeptanz schaffen“, meint der Wissenschaftler Peter Cornel und nennt zwei für ihn entscheidende Argumente: „Wir brauchen eine Modernisierung unserer Stadt. Das Projekt sehe ich auch als Testfeld an für das Weiterforschen.“ Sein Kollege aus dem Wissenschaftlichen Beirat, Harald Garrecht, spricht von einem „Schaufenster der Innovationen und einem Reallabor, in dem wir durch Forschung neue Lösungen finden können“. Das Projekt habe nicht nur Bedeutung für Frankfurt: „Das, was hier geplant wird, ist exportfähig.“ Und Rolf Katzenbach ist überzeugt: „Wenn die Frankfurter es nicht wollen, gibt es genügend andere Städte, die auf so etwas aufspringen.“


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