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Ort der Kreativität Wie ein Haus in einer Favela einen internationalen Architekturpreis gewann

Ein simples, aber gut durchdachtes Haus in einem brasilianischen Armenviertel ist »Haus des Jahres 2023« – und Ausdruck eines grundlegenden Wandels: Die Favela ist nicht mehr nur ein Ort des Elends, sondern kreativ.
Von Nicola Abé, São Paulo
Preisgekröntes Haus in einer Favela in Belo Horizonte, Brasilien

Preisgekröntes Haus in einer Favela in Belo Horizonte, Brasilien

Foto: Leonardo Finotti / Coletivo LEVANTE
Globale Gesellschaft

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Um zum »Haus des Jahres 2023« zu gelangen, muss das Auto die kurvigen Gassen einer Favela hinaufkriechen. An einem Hang geht es auf einem unbefestigten Weg zu Fuß weiter, ein Müllhaufen links, ein paar Hunde liegen im Gras, eine enge Treppe führt nach unten, über den Köpfen ein Wirrwarr aus Stromkabeln.

Da liegt es schließlich: das berühmte Quartier von Carlos Eduardo dos Anjos, den alle Kdu nennen. Der Mann mit den vielen Tattoos öffnet ein metallenes Tor, der Blick weitet sich, fällt auf roten Backstein, das Grün von Pflanzen, schließlich die Aussicht ins Tal, über die Favela mit ihren rechteckigen Häuschen, hinter der irgendwo die brasilianische Stadt Belo Horizonte beginnt.

Aglomerado da Serra, die größte Favela von Belo Horizonte, zu der auch das Viertel Vila Cafezal gehört

Aglomerado da Serra, die größte Favela von Belo Horizonte, zu der auch das Viertel Vila Cafezal gehört

Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

Das Haus, ein zweistöckiger Bau im kubisch-minimalistischen Stil, 66 Quadratmeter, hat sich im Wettbewerb gegen mehr als 1500 Konkurrenten aus aller Welt durchgesetzt. Entworfen von den Architekten Joana Magalhães und Fernando Maculan, ist es Gewinner des diesjährigen Architekturpreises der weltgrößte Architekturwebseite ArchDaily. Dass es ausgerechnet in einer Favela steht, ist kein Zufall – es ist Ausdruck eines grundlegenden Wandels: Die Favela ist nicht mehr nur ein Elendsviertel, sondern längst auch ein Ort der Kreativität, Energie und Inspiration.

Was ihm am besten gefällt an seinem neuen Zuhause? »Dass es gar nicht so anders aussieht als die anderen Häuser hier«, sagt dos Anjos, 32, und streicht mit der Hand über eine Wand. Das stimmt insofern, als Favela-übliche Materialien verwendet wurden: unverputzte Backsteine, Beton, der traditionelle »Arme-Leute-Boden« aus einer Zementmischung mit roter Farbe. »Wie ihn schon meine Oma hatte.«

Kdu dos Anjos mag sein Haus, weil es gar nicht so anders aussieht

Kdu dos Anjos mag sein Haus, weil es gar nicht so anders aussieht

Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Preisgekröntes Haus in einer Favela in Belo Horizonte, Brasilien

Preisgekröntes Haus in einer Favela in Belo Horizonte, Brasilien

Foto: Leonardo Finotti / Coletivo LEVANTE
Gläserne Schiebetüren mit klappbaren Fenstern sorgen für natürliches Lichter und Belüftung

Gläserne Schiebetüren mit klappbaren Fenstern sorgen für natürliches Lichter und Belüftung

Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

»Aus der Favela hört man normalerweise: Schießereien, Drogen, zusammenbrechende Häuser«, sagt dos Anjos, »und hier haben wir etwas Schönes, Besonderes erschaffen – und es damit in die weltweiten Nachrichten geschafft.« Dos Anjos ist Teil einer jungen, kreativen Generation, die sich nicht mehr auf die alten Narrative reduzieren lassen will. Er ist Multikünstler, produziert Videos, Musik und Mode. Auf seiner Terrasse steht eine Kaffeepflanze. »Das ist eine Reminiszenz an frühere Zeiten«, erklärt dos Anjos. Denn Vila Cafezal, das Viertel, in dem er wohnt, war mal eine Kaffeeplantage, auf der Sklaven arbeiteten.

Dos Anjos spielt mit der Vergangenheit, integriert sie in die Gegenwart und durchbricht damit Stereotype: Er trägt ein T-Shirt, auf dem steht: »Lá da Favelinha«, was so viel bedeutet wie: »aus dem Elendsviertelchen« – ein Stück aus seiner Kollektion, die den Straßen-Chic der Favela feiert. »Es geht um einen neuen Stolz«, erklärt er, »wir sind jetzt die Coolen.«

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In der großen Favela Aglomerado da Serra, zu der auch das Viertel Vila Cafezal gehört, lernte er vor einigen Jahren den Architekten Fernando Maculan kennen, der zu Beginn noch im Auftrag der Stadt gemeinnützige Projekte in der Favela verwirklichen sollte. »Früher hatte ich keine Ahnung von Favelas«, erklärt Maculan, 49, »wir sind von außen mit irgendwelchen Projekten reingekommen, anstatt erst mal zuzuhören.«

Sie freundeten sich an und Maculan, der sonst Galerien und Villen entwirft, half dos Anjos ein Kulturzentrum zu bauen – auf freiwilliger Basis. Schließlich gründeten sie mit einer Gruppe Architekten, Studenten und Künstlerinnen 2017 das gemeinschaftsorientierte Kollektiv Levante. »Unsere Strategie ist es nicht, Kultur in ein Territorium zu bringen – sondern zu sehen, was schon vorhanden ist und mit den Menschen zu arbeiten, die dort bereits Kultur erschaffen«, sagt Maculan heute.

Dos Anjos fungiert als eine Art »Außenminister« des Kollektivs, kontaktiert lokale Anführer in verschiedenen Gemeinden. Inzwischen planen sie Projekte im ganzen Land: ein Museum in Salvador, eine Umbanda-Kirche in Belo Horizonte, Apartmenthäuser in São Paulo. Eine verwahrloste Müllhalde am Eingang der Favela St. Amaro in Rio de Janeiro soll in den Untergrund verlagert, darüber ein öffentlicher Platz und ein Skatepark geschaffen werden – in St. Amaro ist Skateboarding seit vielen Jahren fest verankerter Bestandteil der Jugendkultur.

Hier treffen sich Künstlerinnen, Tänzer und Modedesigner

Hier treffen sich Künstlerinnen, Tänzer und Modedesigner

Foto: Bruna Brandao / Coletivo LEVANTE

Bisher finanzierten sie ihre Projekte über Materialspenden, Crowdfunding und freiwillige Arbeit. Nun sind sie dabei, sich als Non-Profit-Organisation registrieren zu lassen. Seit dos Anjos’ Haus den Architekturpreis gewonnen haben, sind sie sogar im Ausland bekannt.

Dabei hatten Maculan und seine Kolleginnen zunächst Zweifel: »Ein Haus für eine Person? Das war eigentlich nicht das, was wir machen wollten«, erklärt er. Doch dann habe er darüber nachgedacht: Was, wenn sie nicht nur ein Haus, sondern eher ein Repertoire erschaffen würden, etwas, das sich multiplizieren ließe, damit mehr Menschen davon profitierten?

Ein sehr simples, aber gleichzeitig durchdachtes Haus

Ein sehr simples, aber gleichzeitig durchdachtes Haus

Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Die traditionellen Materialien und Bauweisen wurden beibehalten und neu eingesetzt

Die traditionellen Materialien und Bauweisen wurden beibehalten und neu eingesetzt

Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

»Man dachte lange Zeit, die Lösung für die Probleme mit den Häusern in der Favela sei der industrielle Hausbau, vorgefertigte, einheitliche Gebäude«, erklärt der Architekt, »wir haben uns dann entschieden, etwas komplett anderes zu machen, auch weil die industrielle Lösung viel zu teuer ist.« Sie griffen auf das zurück, was schon da war – die traditionellen Materialien und Bautechniken, die Favela-typische Kastenoptik, ein »Wissenstransfer« habe stattgefunden.

»Der Unterschied zu den anderen Häusern liegt im Design«, sagt Maculan. Freiflächen bieten großzügige Terrassen mit Panoramablick, gläserne Schiebetüren mit klappbaren Fenstern sorgen für natürliches Lichter und Belüftung, eine Überdachung aus Bambusstäben für Sonnenschutz. Die Backsteine wurden statt hochkant seitlich verbaut – zur besseren Isolierung gegen Hitze, Kälte und Lärm. »Wir haben ein sehr simples, aber gleichzeitig ein perfekt durchdachtes Haus gebaut«, sagt Maculan. Eines, das sich kopieren lässt.

»Und alle reden jetzt darüber. Die Menschen denken wirklich: Wow, ich kann dieses Haus auch haben, ich kann es einfach bauen. Es ist nicht unerreichbar.« Der Plan sei also aufgegangen: »Mit einem Haus für einen Single haben wir etwas für die Gemeinschaft getan.«

Kdu dos Anjos steht auf einer seiner Terrassen, der untersten. Viel Ausblick hat er von dort nicht mehr. Der Nachbar hat vor seiner Nase eine Hauswand hochgezogen, unverputzter Backstein. Dos Anjos sagt, es störe ihn nicht. »Jetzt habe ich mehr Intimsphäre«, sagt er grinsend, »so ist das nun mal in der Favela. Alles verändert sich ständig, und das ist gut so.«

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes stand, dass ein Museumsbau in EL Salvador geplant ist, es geht aber um die brasilianische Stadt Salvador. Wir haben den Fehler korrigiert.